Swantewit

Svantevit-Steinrelief in der Pfarrkirche von Altenkirchen. Quelle: Lebrac (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Svantevit-Steinrelief in der Pfarrkirche von Altenkirchen. Quelle: Lebrac (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Swantewit (auch Svantevit, Swantowit, Svetovit) war der Hauptgott der Rügenslawen und seine Kultstätte in Arkona das wichtigste Heiligtum der heidnischen Elb- und Ostseeslawen nach der Zerstörung Rethras im Jahre 1068. Sein Name wird, etwa von Zdeněk Váňa, als "heiliger Herrscher oder Sieger" gedeutet (von svet, "heilig", "mächtig" in allen slaw. Sprachen und -vit, das in zahlreichen slaw. Personennamen in der Bedeutung von "Herr", "Herrscher", "Sieger" vorkommt), aber auch als "heiliges Wesen" oder "heiliges Leben". Werner Meschkank deutet auch einen etymologischen Zusammenhang mit den Worten "Schwan" und "schwanger" an. Eventuell handelte es sich bei Swantewit um den Beinamen eines anderen Gottes.

Die wichtigsten Zeugnisse sind die Gesta Danorum des dänischen Priesters Saxo Grammaticus, der nach der Eroberung der Burg von Arkona durch den dänischen König Waldemar und dessen Bischof und Heerführer Absalom 1168 dorthin gelangte, und die Chronica Slavorum Helmolds von Bosau; daneben auch die skandinavische Knytlingasaga. Saxo beschreibt das Heiligtum des Swantewit sehr anschaulich:

 

"Im Tempel stand ein gewaltiges Götterbild, den menschlichen Körper an Größe weit übertreffend, wunderlich anzusehen durch seine vier Köpfe und ebensoviel Hälse. Zwei der Köpfe schienen nach der Brust und ebenso viele nach dem Rücken zu sehen. Im Übrigen schien von den vorderen wie von den hinteren der eine nach links, der andere nach rechts zu blicken. Die Bärte waren rasiert dargestellt, die Haare geschnitten, so daß es schien, der Fleiß des Künstlers hätte die Art der Rugianer in der Pflege der Haare nachgeahmt. In der Rechten hielt die Figur ein Trinkhorn, aus verschiedenen Metallen gebildet, das der Priester jährlich neu zu füllen gewohnt war, um aus der Beschaffenheit der Flüssigkeit die Ernte des kommenden Jahres zu weissagen. Der linke Arm bildete, in die Seite gestemmt, einen Bogen. Der Rock war so beschaffen, daß er an die Schenkel reichte, die aus verschiedenem Holz geformt und mit dem Kniegelenk verbunden waren, daß man den Ort der Verbindung nur bei genauem Hinsehen erkennen konnte. Die Füße berührten den Boden, ihre Basis war in der Erde verborgen. Nicht weit davon hingen Zaum und Sattel und andere Herrschaftszeichen der Gottheit; seine Bewunderungswürdigkeit vermehrte ein Schwert von ungeheurer Größe, dessen Scheide und Griff, abgesehen von dem sehr schönen Treibwerk, das silberne Äußere auszeichnete."

 

Das auffälligste und rätselhafteste Attribut dieses geheimnisvollen Gottes war zweifellos seine Vierköpfigkeit, die ihn als Allgott kennzeichnet, der in die vier Himmelsrichtungen schaut und das Ganze des Kosmos überblickt. Das Schwert deutet darauf hin, daß er auch als Kriegs- und Stammesgott verehrt wurde, und das weiße Pferd, das zu seinem Tempel gehörte, fügt sich sowohl in den militärischen als auch in einen solaren Kontext, schließlich waren es in der indoeuropäischen Mythologien zumeist Pferde, die den Sonnenwagen zogen. Zuweilen soll das heilige Pferd morgens mit Schweiß bedeckt gewesen sein, obwohl es die Nacht über angebunden in seinem Stall war - dann hieß es, daß der Gott selbst mit ihm ausgeritten sei. Ein spätes Echo dieser Vorstellung findet sich vielleicht noch in der norddeutschen Sagengestalt des Schimmelreiters.

Zusammen mit dem Met, der im heidnischen Skandinavien als Rauschtrank und Quelle ekstatischer Inspiration eine große Rolle spielte, könnte das Pferd auf eine mythische Verwandtschaft mit dem schamanischen Wissens- und Weisheitsgott Odin und dessen Hengst Sleipnir hinweisen, wofür die geographische Nähe und die Verbreitung von Winkingersiedlungen im südlichen Ostseeraum spricht - allerdings war Skandinavien im 12. Jhdt. bereits christianisiert. Neben dem Met wurde auch ein riesiger Honigkuchen für Orakelzwecke verwendet; wenn der Priester sich hinter ihm verstecken konnte und nicht mehr sichtbar war, so sollte auch dies eine reiche Ernte bedeuten. Der Kult des Swantewit war einerseits von strenger Ernsthaftigkeit geprägt - so war es dem Priester, wenn er das Allerheiligste des Tempels fegte, nicht erlaubt, dabei zu atmen, so daß er immer wieder nach draußen gehen mußte -, andererseits wurden seine Opferfeste als üppige Gelage gefeiert.

Die Swantewit-Priester verfügten über außerordentlichen Einfluß und waren den Königen an Macht mindestens ebenbürtig; offenbar hatten sich auf Rügen in jener Zeit tendenziell theokratische Strukturen ausgebildet, wobei offen ist, inwiefern diese für die westslawische Gesellschaft insgesamt charakteristisch waren oder eine spätheidnische Reaktion auf die Organisationsform der christlichen Kirche darstellten. Sie unterhielten eine Tempelgarde von dreihundert Reitern und horteten einen gewaltigen Tempelschatz, zu dem auch die slawischen Stämme des Festlandes Tribute beisteuerten; auch Händler, die eine Zeitlang auf Rügen lebten, mußten Opfergaben abliefern - sogar der dänische König Sven III. (gest. 1157) glaubte, sich die Gunst der Priester durch das Geschenk eines kostbaren Pokals sichern zu sollen.

Vielleicht zeigen die Swantewitsteine, die in die Kirchenmauern von Altenkirchen und Bergen eingemauert sind, Priester des Gottes oder gar den Gott selbst; das erste Relief stellt eine bärtige männliche Gestalt mit knielangem Gewand und mächtigem Trinkhorn dar. Auch weitere Orte auf Rügen verweisen auf Swantewit, etwa das zur Gemeinde Breege gehörige Schmantevitz; desweiteren Wustrow auf Fischland (von swante wosdrowe, "auf einer heiligen Insel"), wo die Kirche an der Stelle eines Swantewit-Tempels errichtet sein soll, und vielleicht sogar das weiter entfernte Rostock: Dort stand eine Slawenburg, die 1160 von den Dänen erobert wurde, wobei sie ein Kultbild zerstörten, das womöglich dem Swantewit geweiht war.

 

1848 wurde in dem südpolnischen Fluß Zbrucz bei Husiatyn in Galizien (heute Ukraine) ein 2,57 Meter hohes Standbild geborgen, das bei niedrigem Wasserstand von Kindern entdeckt worden war. Der Fund galt als Sensation und wurde international beachtet - sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus politischen Gründen, weil viele Polen in der Figur im Revolutionsjahr ein nationales Symbol für einen unabhängigen polnischen Staat sehen wollten. Ebenso gab es Stimmen, die sie als eine politisch motivierte Fälschung ansahen, doch mittlerweile gilt ihr Alter (10. Jahrhundert) durch moderne archäologische Untersuchungen als gesichert. Heute ist die Skulptur die Hauptattraktion des Museums für Archäologie der Akademie der Künste in Krakau.

Das aus Kalkstein bestehende Standbild ist im Querschnitt annähernd quadratisch (etwa 30 x 30 cm) und wiegt, ohne den abgebrochenen und bislang verschollenen Sockel, über 500 kg. Alle vier Seiten weisen plastische figürliche Darstellungen auf und waren früher, wie Farbreste zeigen, bemalt. Die Nähe zur Symbolik des Swantewit ist offenkundig - die Reliefs zeigen Füllhorn, Pferd und Schwert -, aber es handelt sich nicht nur um eine Darstellung einer Figur mit vier Gesichtern (unter einem gemeinsamen Hut), sondern um ein ganzes Ensemble größenteils weiblicher Figuren, das über die Stele verteilt ist. Die Bildsäule gliedert sich in drei Abschnitte: Im unteren Bereich sind drei knieende männliche Gestalten zu erkennen, die offensichtlich die oberen Etagen stützen. Im Mittelteil finden sich vier Gestalten - davon zwei eindeutig weiblich -, die so angeordnet sind, daß der Eindruck eines Rundtanzes, bei dem sie sich an den Händen halten, entsteht. Den größten oberen Teil bilden vier in lange Gewänder gekleidete Gestalten, von denen drei weibliche Körperformen haben: eine hält das Horn, die zweite eine kleine Schüssel, einen Kranz oder Ring, und die dritte zeigt Pferd und Schwert als Attribute.

Die Frage, ob man in der Skulptur von Zbrucz eine Darstellung Swantewits erkennen darf, ist umstritten, nicht zuletzt weil es an ihrem Fundort, weit entfernt von der Ostsee, sonst keine Belege für einen Swantewit-Kult gibt. Auch die Vierköpfigkeit ist noch kein Beweis, da Polykephalie bei slawischen Göttern auch sonst vorkommt. Allerdings erscheint die symbolische Nähe bestechend. Vielleicht handelt es sich nicht um die Gottheit selbst, sondern um ihre Darstellung in ihrem Wirkungszusammenhang? Die dreiteilige Gliederung könnte auf die drei Welten verweisen, die vier Gesichter auf die Himmelsrichtungen oder Jahreszeiten; die tanzenden Gestalten feiern ein Ritual ...

Auch andere, außerhalb Rügens gefundene Idole wurden dem Swantewit zugeschrieben: eine kleine, vierköpfige Figur von 9,5 cm Länge, die in Wolin an der Odermündung gefunden wurde und womöglich ein Swantewit-Amulett war, ein ähnliches Figürchen aus dem polnischen Łęczyca und eine viergesichtige Hornfigur aus dem bulgarischen Preslav.

 

1168 fand die Macht der Swantewit-Priester auf Rügen ihr Ende; die Burg Arkona wurde erobert, das Standbild der Gottheit niedergerissen, zerstückelt und verbrannt; die Bevölkerung mußte sich taufen lassen, der Tempelschatz wurde geraubt, und König Jaromar I. unterwarf sich als Vasall dem dänischen König. Von dem mächtigen Burgwall ist heute noch etwa ein Fünftel erkennbar; der Rest ist im Laufe der Jahrhunderte im Meer versunken. 1921 hatte der Archäologe Carl Schuchardt geglaubt, die Kultstätte gefunden zu haben, was durch Grabungen in den Jahren 1969/70 jedoch widerlegt wurde. Nach heute vorherrschender Meinung lag der Tempel in dem Bereich der Burganlage, die bereits ein Raub des Meeres geworden ist. Gleichwohl wurden bei Notgrabungen in der Jaromarsburg Opfergruben, Pfeilspitzen, Perlen und Münzen und im Jahre 2014 sogar Schädelknochen gefunden, die starke Spuren von Gewalt aufweisen.

 

In den letzten Jahren wurde die Diskussion um den Swantewit-Tempel durch die Entdeckung von Pfostengruben direkt an der Steilküste neu belebt: Dabei soll es sich um Überreste einer auf Eichenpfosten errichteten Kulthalle von 8 x 12 Metern im Grundriß und bis zu 12 Metern Höhe handeln. Die Archäologen schließen jedoch aus, daß diese Halle der Swantewit-Tempel selbst gewesen sei, da die schiffsförmige Konstruktion - die in dieser Größe im ostseeslawischen Raum einzigartig ist - auf eine skandinavische Bautradion verweise. Die Frage, warum sich ein skandinavisches Bauwerk gerade dort befunden haben soll, kann derzeit noch nicht beantwortet werden. Denkbar wäre, daß es von heidnischen Wikingern verlassen und danach von den Slawen weiter genutzt wurde. Vielleicht muß aber auch die strikte Abgrenzung der Baustile neu überdacht werden?

Der Fund gilt als wissenschaftliche Sensation, und es ist zu hoffen, daß er in absehbarer Zeit zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich der Geschichte und Kultur der Rügenslawen - und vielleicht sogar ihres vierköpfigen Hauptgottes - führen wird.