Was ist Heidentum?

Lange Zeit wurde Heidentum lediglich als Gegenstück und negative Projektionsfläche des Christentums gesehen – kein Wunder, denn die christlichen Missionare hatten an den Vorstellungen des von ihnen verteufelten „Aberglaubens“ wenig Interesse. Aufgrund des mittelalterlichen Sprachgebrauchs hat sich der Begriff „Heidentum“ allgemein eingebürgert, mit der Zeit aber – beschleunigt durch den demographischen Niedergang des Christentums in Europa seit Mitte des 20. Jahrhunderts und neue alternativreligiöse Konzepte – von seinen negativem Beiklang abgelöst.

 

Wir verstehen unter „Heidentum“ heute eine Religion, die vor allem durch

 

  •  Polytheismus,
  •  Immanenz der Götter im Kosmos,
  • das Fehlen einer historischen Stifterfigur,
  • den Primat der Erfahrung über das Dogma,
  • die Heiligkeit der Natur,
  • die Betonung von Herkunft und Tradition sowie
  • die Feier von Festen und Ritualen im Jahreskreis


gekennzeichnet ist. Da diese religiösen Grundformen weitaus älter als die monotheistischen Stifterreligionen Judentum, Christentum und Islam sind, handelt es sich beim Heidentum in seinen verschiedensten Ausprägungen um die Urreligion des Menschen, die eigentliche und primäre religiöse Grundhaltung. Heidentum war – und ist – die Erfahrung des Wirkens göttlicher Archetypen in der Natur; mit einem „Glauben“ an bestimmte Lehrsätze hat dies wenig zu tun.

 

 

Begriffsbestimmungen

 

Nach der bekannten etymologischen Deutung des Laktanz leitet sich religio von religare („rückbinden“) her; der christliche Apologet des 4. Jahrhunderts meinte damit zwar die Bindung des Gläubigen an den christlichen Gott, aber der Begriff ist nicht auf eine bestimmte Religion festgelegt. Religion bezeichnet dann allgemein eine existenzielle Befindlichkeit, ein Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher).

 

Der heidnische Römer Cicero, von dem sich Laktanz kritisch abgrenzte, hatte den Begriff religio anders interpretiert: als Ableitung von relegere, was „wieder (auf-)lesen“ oder „einsammeln“, im übertragenen Sinne auch „achtgeben“, „sorgsam beobachten“ bedeutet. Der Priester hatte also in erster Linie die überkommenen Ritualvorschriften einzuhalten; was er oder die anderen Ritualteilnehmer dabei glaubten, war zweitrangig. Es ging um die Form, nicht um den Inhalt.

 

Erst mit der weitgehenden Etablierung des Christentums im Abendland konnte es zur Gleichsetzung bzw. Verwechselung von Religion und Glauben kommen. Was aber geglaubt werden soll, kann stets auch bezweifelt werden, so daß das Christentum (wie sein feindlicher muslimischer Bruder) von Beginn an Schismen und Häretiker produzierte. Religion, die Glauben nötig hat, ist jedoch schon eine Schwundstufe des religiösen Urphänomens; der Mensch von archaischer Religiosität erfaßte das Göttliche noch in der Natur, im Kreislauf der Gestirne, im Gegensatz von väterlichem Himmel und mütterlicher Erde, im Wechsel von Ebbe und Flut und dem Reigen der Jahreszeiten, in der Kraft des Feuers oder des Bären, in der überwältigenden Macht von Liebe, Geburt und Tod.

 

Ciceros Definition ist nicht nur für die heidnische Auffassung von Religion, sondern für das Wesen des Religiösen insgesamt charakteristisch und findet sich ganz ähnlich auch bei den Skandinaviern der Wikingerzeit, auf die sich heute viele Neuheiden berufen: Religion hieß damals forn sidr (dän.) „alte Sitte“ – auch hier ging es um das, was man immer schon tat, und nicht um das, was man glaubte. Aber auch das deutsche Wort „Glauben“ wurde in der mittelalterlichen Bekehrungszeit noch anders verstanden: Etwas zu gilouban (Althochdt.) hieß nicht, dieses für wahr zu halten, sondern ihm Treue zu geloben. Während das neuhochdeutsche „Glauben“ diese Bedeutung nicht mehr aufweist und hauptsächlich „Vermuten“, daneben noch allenfalls ein vages Bindungsgefühl bezeichnet, meint auch das lateinische fides in erster Linie die Treue und damit ein Verhalten. Im nord- und osteuropäischen, germanischen und slawischen Kulturkreis entsprach das Verhältnis von Göttern und Menschen demjenigen von – grundsätzlich wohlwollenden – Fürsten zu ihren Gefolgsleuten; man gab wechselweise, was man einander an Schutz und Opfergaben schuldig war, fürchtete zuweilen zwar die Unberechenbarkeit der Götter, nicht aber, wie die alttestamentlichen Israeliten, deren nie zu befriedigende Rachsucht.

Fritz Steinbock betont deshalb zu Recht den pragmatischen und rituellen Charakter des Heidentums;[1] es ist primär der gemeinsame Kultus, in dem sich – in den Augen der Feiernden – ein mythisches Urereignis wiederhole und die „heilige Zeit“ des Urbeginns, wie von dem rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschrieben, für einen Augenblick die „profane Zeit“ aufhebe.

 

„Glaubst du an (einen) Gott?“ ist daher eine Frage, die sich vor dem Hintergrund einer traditionell heidnisch geprägten Kultur kaum stellte; die Frage lautete eher: „Welchem Gott (oder welchen Göttern) opferst du?“ Nur gänzlich Besitzlose, insbesondere Sklaven, hätten darauf geantwortet, daß sie überhaupt keinem Gott opfern (können). Wer von einem glücklichen Schicksal begünstigt war, wird gerne vielen Göttern geopfert haben; und ein Problem bestand nicht darin, „den falschen“ oder zu vielen Göttern zu opfern, sondern eher darin, womöglich einen zu vergessen. Die mythologischen Texte des Altertums berichten davon, daß es zwar zu Eifersucht zwischen Göttern kam, die sich ihre Opfer neideten, aber kein Gott – oder Mensch – hätte je die Existenz anderer Götter in Frage gestellt; selbst das Erste Gebot „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“ geht noch vom altjüdischen Polytheismus aus, der Jahwe nicht als einzigen, sondern nur als den von seinem auserwählten Volk allein zu verehrenden Gott ansah; andere Völker hatten andere Götter, deren Huldigung als Verrat am eigenen Volk angesehen wurde, dessen „metaphysisches Zentrum“ sein Gott darstellte.[2]

Der Gegensatz zwischen Jahwe und den Göttern der Nachbarvölker Israels bestand, nach Auffassung des jüdischen Religionsphilosophen Oskar Goldberg, vor allem darin, daß Jahwe kein Orts-, sondern ein „ortloser“ (Wüsten-)Gott war, der sich sein Volk „auserwählt“ und mit ihm einen „Bund“ geschlossen hat. Alle anderen Götter haben hingegen einen konkreten Bezug zu einer bestimmten Landschaft, in der sie besonders erfahrbar sind, und stehen mit „ihrem“ Volk in einer natürlichen Verbindung, meist als dessen „Stammvater“ (nicht „Schöpfer“). Ein Abstammungsverhältnis kann nicht aufgelöst, wohl aber kann ein Bund gebrochen werden, woraus Jahwes besondere Eifersucht und die bereits von antiken Autoren problematisierte Singularität Israels unter den Völkern, den gojim, resultiert. Da Jahwe von Natur aus kein Volk „besaß“ und zudem „landlos“ und „akosmisch“ (vielleicht auch deshalb zur biblischen Rolle des im Raumlosen schwebenden Schöpfers der Erde prädestiniert) war, befand er sich gegenüber den im Kosmos immanent verwurzelten Göttern zunächst im Nachteil. Auch die geringe Macht seines kleinen Volkes war anfangs nachteilig, konnte von dessen Propheten während der babylonischen Gefangenschaft aber auf sehr erfolgreiche Weise neu interpretiert werden: Allgemein herrschte in der Antike die – paradigmatisch etwa an den Götterkämpfen der Ilias zu beobachtende – Vorstellung vor, daß das Kriegsglück der Völker aus der Macht deren Götter folge: Siegen die feindlichen Götter, haben diese sich als stärker erwiesen und müssen nun auch von den unterlegenen Völkern verehrt werden. Zwar können die besiegten Götter in das Pantheon der siegreichen aufgenommen oder als deren lokale Erscheinungen aufgefaßt werden, aber insgesamt droht die Gefahr des Verlustes der kulturellen Identität der Besiegten.

Den Propheten gelang es nun, die Niederlage so zu wenden, daß dem jüdischen Volk seine Identität auch unter den Bedingungen fremder Herrschaft erhalten blieb: Nicht Jahwe hat versagt – so lehrten sie –, sondern sein Volk hat es an der nötigen Gesetzestreue fehlen lassen, weshalb er es durch die Feinde strafen ließ; nun hat das treulose Volk aber die Möglichkeit, durch besonderes Wohlverhalten seine Gunst wieder zurückzugewinnen.

 

Zweifellos liegt in dieser neuartigen Gedankenfigur[3] eine Wurzel für das Erfolgsmodell der jüdischen Identität unter äußerlich widrigen Bedingungen; der Preis, der dafür zu zahlen war, lag in einem wachsenden Gegensatz des von seinem Gott auserwählten (und immer wieder gestraften) Volkes zu den übrigen Völkern des Orbis Terrarum.

 

Einige Aspekte dieses Gegensatzes gingen auf denjenigen zwischen Heiden und Christen über: Auch die Kreuzigung Christi wurde sicher zunächst als dessen Scheitern empfunden, konnte aber als heilsgeschichtlich notwendiges Selbstopfer interpretiert werden, und die Christen traten als Märtyrer, denen Tod und Verfolgung nichts anhaben konnte, aus dem heidnisch-erfahrungsreligiösen Kontext heraus. Ihr Reich war „nicht von dieser Welt“, und ihre linear-eschatologische Zeitvorstellung eine andere als die zyklische Zeitauffassung des Heidentums. Da die Christen sämtliche Götter des antiken Pantheons ablehnten, nahmen sie für sich eine Sonderrolle in Anspruch, auch wenn sie diese nicht mehr auf Abstammung und einen Bund Gottes mit den Stammvätern zurückführten. Der Bundesgedanke wurde in der Taufe in gewisser Weise beibehalten; nur ist es jetzt nicht mehr Gott, der sich sein Volk auswählt, sondern der Einzelne, selbst der geringste Sklave, kann sich, indem er sich zu Gott bekennt und ihn für sich „auserwählt“, selbst zum „Auserwählten“ machen.

 

„Tres sunt in mundo religiones, Iudaeorum, paganorum et Christianorum“, heißt es bei Vigilius von Thapsus. Wer war mit den pagani gemeint? Der Begriff ist abgeleitet von pagus, „Dorf, Gau, Volksstamm“, und bezeichnet in einem pejorativen Sinn einerseits den bäuerlich lebenden „Dörfler“ und andererseits den autochthonen Landbewohner aus der Sicht des Fremden, etwa des römischen Beamten oder des zeitweilig stationierten Soldaten. Aus der Perspektive des letzteren hat paganus auch die spöttisch-abwertend gemeinte Bedeutung des „Zivilisten“.

 

Diese geringschätzige Bezeichnung für „rückständige“, „wilde“, „unzivilisierte“, „barbarische“ Völker an der Peripherie des Reiches ging auf die Anhänger der nichtchristlichen Religionen über, da sich das Christentum zunächst in den großen Metropolen, vorwiegend bei den Unterschichten sowie unter den Soldaten – bei den geographisch und kulturell Entwurzelten –, ausbreitete, bis die Romanitas mit der Christianitas gleichgesetzt werden konnte. Bei den germanischen Völkern setzte sich schließlich ein vielen Dialekten gemeinsames Wort als Übersetzung von paganus durch:

 

„Als keltisch-germanische Wurzel hat man *kaito- in der Bedeutung von ‚Wald, unbebauter Landstrich’, als urgermanische Stammform *haithanas, rekonstruiert. Davon leiten manche althochdeutsch heidan/heidin, angelsächsisch haeden, isländisch heidinn, englisch heathen, mittelhochdeutsch heiden ab. […] Jedenfalls habe ‚der Heide’ denselben Wortstamm wie ‚die Heide’, auf der kein angebautes, sondern wildes Kraut und Gestrüpp wächst. ‚Der Heide’ in der mitübernommenen Bedeutung des Nichtchristen wäre dann eine klassische Lehnübersetzung von paganus und bezeichnete wie dieses den Ungläubigen, der auf dem Lande, jetzt sogar: in wilder, unkultivierter Gegend wohnt.“[4]

 

 

Polytheismus und Monotheismus


Begrifflich bestand der Gegensatz zwischen Christentum und Heidentum zunächst also in dem von Zivilisation und Barbarei (aus christlicher Sicht).

Inhaltlich liegt dem heidnisch-christlichen Zwiespalt, der tief durch die abendländische Seele geht, jedoch wesentlich für ihre kulturelle Produktivität verantwortlich war, ein ganzes Geflecht von Gegensätzen, aber auch von Überschneidungen und Mischungen zugrunde, das im folgenden etwas entwirrt werden soll.

 

Die populärste Unterscheidung liegt sicher darin, daß das Christentum monotheistisch ist, im Heidentum hingegen ein Polytheismus vorherrscht, der von christlicher Seite traditionell einem primitiven religiösen Bewußtsein zugeordnet wird. Diese Differenz ist allerdings problematisch und trifft nicht immer den Kern der Sache. Einerseits nimmt auch der Islam für sich in Anspruch, den Monotheismus überhaupt erst richtig erfaßt zu haben, und wirft dem Christentum vor, aufgrund seines trinitarischen Gottesbildes dem Heidentum verhaftet zu bleiben; andererseits gibt es auch innerhalb des Heidentums monotheistische Tendenzen. Die älteste bekannte ist die „religiöse Revolution“ des Echnaton, der die alleinige Verehrung des Sonnengottes Aton durchzusetzen versuchte, worin manche Ägyptologen eine Vorwegnahme des mosaischen Gottesbildes erkennen. (Unabhängig von den geschichtlichen Entwicklungslinien ist ein Sonnengott aufgrund der scheinbaren Allgegenwart des Lichtes phänomenologisch besonders dafür prädestiniert, andere Gottheiten zu verdrängen.) Auch im Hinduismus gibt es die Auffassung, daß die Götter Erscheinungsformen einer einzigen Urgottheit, des Brahman, sind. Weit verbreitet war die Vorstellung eines „Urmonotheismus“ auch in deutschen heidnischen Kreisen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Viele Protagonisten der völkischen Bewegung, etwa Guido von List und Hermann Wirth, oder der Nationalrevolutionär Friedrich Hielscher vertraten ein solches Konzept unter Rückgriff auf mystische und pantheistische Traditionen. Vorstellungen dieser Art wurden auch im „Ahnenerbe“ der SS aufgegriffen, weil man sich von ihnen eine größere Akzeptanz der projektierten künftigen „NS-Religion“ als von einem Rückgriff auf ein polytheistisches Modell erhoffte; gleichwohl dürfen diese Ideen nicht auf ihre politische Instrumentalisierung reduziert werden. Historisch ist ein „Urmonotheismus“ bei archaischen Völkern nicht nachweisbar; soweit bekannt, finden sich dort stets polytheistische Anschauungen.

Erst im Rahmen komplexer philosophischer Systeme wurden, bei den alten Indern wie bei den Griechen, monotheistische Konzepte ausgebildet. Sie treten also auch schon in heidnischen Kontexten auf, stellen aber Spätentwicklungen dar, in denen die mythologische Anschaulichkeit, die sich immer auf die Vielheit der Welt richtet, dem Denken in abstrakten, vereinheitlichenden Kategorien weicht, das oft mit dem Übergang von oralen zu literalen Kulturen verbunden ist.

 


Mündliche Überlieferung und "heilige Texte"


In dieser „Medienrevolution“ zeigt sich ein weiterer häufig anzutreffender Unterschied zwischen Heiden- und Christentum: Dem Primat der mündlichen Überlieferung steht eine Verschriftlichung der religiösen Tradition gegenüber. Zwar werden auch in heidnischen Kulturen religiöse oder mythologische Texte niedergeschrieben, aber diese Aufzeichnung ist für ihre Geltung nicht wesentlich – im Gegenteil ist mit ihr manchmal sogar ein Bedeutungsverlust bzw. eine Reduktion auf „bloße Literatur“ verbunden. Das eigentliche religiöse Wissen brauchte man nicht aufzuschreiben; „man“ – oder zumindest eine Elite mit entsprechender Erinnerungskapazität – hatte es im Gedächtnis. Demgegenüber vollzieht sich bereits im Judentum eine Wendung zur schriftlichen Fixierung, die zu einem „Traditionsschluß“ (Jan Assmann), der Festlegung eines bestimmten Kanons, und der Ausbildung eines zu dessen Interpretation berufenen Standes führte.

Christentum und Islam haben das Judentum in dieser Hinsicht beerbt, und der Protestantismus stellte lediglich eine Opposition gegen die Interpretationselite, nicht aber gegen das Schriftprinzip dar. „Die Schrift“ ist „heilig“, das „Heilige Buch“ wurde in der Vergangenheit offenbart, und an seine Aussagen muß, ungeachtet eventueller Widersprüche, die aus der Heterogenität der Überlieferungen resultieren, geglaubt werden; Schrift- bzw. Buchreligionen sind daher auch Offenbarungs- und diese wiederum stets Glaubensreligionen, denn die Offenbarung kann als einmaliges, vergangenes Ereignis nicht unmittelbar erlebt, sondern nur aus dem heiligen Text rekonstruiert werden. Das Heidentum hat demgegenüber keine Offenbarung nötig, da es im „Buch der Natur“ liest.

 


Erfahrungsreligion


Im Gegensatz zu den Glaubensreligionen handelt es sich beim Heidentum also um eine Erfahrungsreligion.[5] Diese Bestimmung ist allerdings nur näherungsweise zu verstehen: In dem Maße, in dem die Erfahrung des Religiösen auch in heidnischen Kulturen institutionell verwaltet wird, unterliegt sie einer Transformation durch glaubensreligiöse Elemente, und umgekehrt hat auch die christliche Glaubensreligion auf die Elemente unmittelbarer Erfahrung nicht verzichten können; besonders die üppigen Kultpraktiken der katholischen wie der orthodoxen Kirche sind hier zu nennen, aber auch die musikalische Tradition des – sonst eher an das rational durchdachte, individuelle Bekenntnis appellierenden – Protestantismus. Auch der Glauben kommt also nicht ohne Erfahrung aus, und es gibt im Christentum echte religiöse Erfahrung, nur wird diese überformt und verfremdet.

 

Solche Mischungen ergaben sich also teils aus archetypischen und existenziellen Gegebenheiten, teils lagen ihnen auch pragmatische Erwägungen während der Missionszeit im frühen Mittelalter zugrunde: So hat Papst Gregor der Große um 600 die Anweisung erteilt, heidnische Kultstätten nicht grundsätzlich zu zerstören, sondern umzuwidmen und auch die dort gepflegten Rituale nicht zu verbieten, sondern im christlichen Sinne neu zu interpretieren. Langfristig war diese Strategie erfolgreicher als die (von Gregor ebenfalls vorangetriebene) Mission mit Feuer und Schwert; sie knüpft an die verhältnismäßig behutsame Missionspraxis der iro-schottischen Mönche in Süddeutschland an, wo der Katholizismus dauerhafter verankert werden konnte als im Norden und Osten. Bekanntlich wurde unter den Sachsen das Christentum von Karl dem Großen in blutigen, selbst von zeitgenössischen Chronisten als ungewöhnlich grausam beschriebenen Kriegen durchgesetzt, und unter den slawischen und baltischen Bewohnern des späteren nordöstlichen Deutschland wurde diese Praxis im Hochmittelalter fortgesetzt. Von daher verwundert es nicht, daß sich in diesen gewaltsam missionierten Gebieten der Protestantismus einige Jahrhunderte später als Opposition gegen die noch immer als bedrückend empfundene Macht der katholischen Kirche durchsetzte.

Der Glaubenskrieg führte langfristig zum Gegenstoß, aber auch die „Aufpropfungsstrategie“ Papst Gregors war nicht unproblematisch. Zwar wurden die Heiden christianisiert, aber das Christentum in mancherlei Hinsicht auch paganisiert. Vielleicht lag darin jedoch auch eine erfahrungsreligiöse Vertiefung des Christentums, ohne die es sich im Abendland niemals hätte verbreiten können?

 

Was aber ist unter Erfahrungsreligion bzw. religiöser Erfahrung im Allgemeinen zu verstehen?

 

Der Philosoph Reinhard Falter beschreibt die „Götter der Erfahrungsreligion“ als „Grundqualitäten oder Grundcharaktere der Welt, die in der Psyche ebenso wie in der Natur erscheinen. Apoll und Dionysos, Athene und Hermes sind ergreifende Atmosphären. Mythische Rede ist gekennzeichnet durch Anerkennung der Atmosphären als Wesenheiten […].“[6]

 

Ähnlich, wenn auch mit einer polemischen Spitze gegen das Christentum, bezeichnet Fritz Steinbock das Heidentum „im Gegensatz zu autoritären Offenbarungslehren, die nur blind geglaubt werden können“, als „Erfahrungsreligion, die statt auf Glauben auf die lebendige Begegnung mit den Göttern setzt. Diese Begegnung kann auf vielerlei Weise geschehen: im Erleben der Natur um uns und der ‚Natur, die wir selbst sind’, in persönlichen Visionen und in kollektiven Erfahrungen, die uns Mythen und Traditionen mitteilen, an heiligen Plätzen und Kraftorten, in Ausnahmefällen oder ganz unerwartet im täglichen Leben.“[7]

 

Beide Autoren stehen in einer Tradition, die im zwanzigsten Jahrhundert durch Denker wie Carl Gustav Jung, Ludwig Klages, Martin Heidegger, Mircea Eliade, Kurt Hübner oder Hermann Schmitz repräsentiert wird. Falters Begriff der „Grundcharaktere“ verweist auf die Archetypenlehre C. G. Jungs, und seine Bezugnahme auf „Atmosphären“ knüpft an Klages’ „Lehre von der Wirklichkeit der Bilder“[8] sowie an Schmitz’ Neue Phänomenologie an.

Gemeinsam ist all diesen Autoren ein antikonstruktivistischer Grundzug: Sie gehen von einer Sphäre des Religiösen aus, die wirklich existiert und – in einer Haltung der Offenheit – zumindest zeitweise erfahrbar ist. In der Vergangenheit vollzog sich diese Erfahrung vor allem im gemeinsamen Ritual – angesichts von Gottesdiensten, denen der Gottesbezug heute weitgehend abhanden gekommen ist, und der namentlich in protestantischen Kreisen vorherrschenden Beliebigkeit gegenüber religiösen Dingen ist es jedoch verständlich, wenn der Suchende die Kirchen meidet und sich stattdessen in die Einsamkeit der Natur begibt. Vielleicht begegnet ihm das Göttliche dort in stiller Kontemplation, vielleicht aber auch in ekstatischer Trance unter Anleitung eines Schamanen. Eventuell handelt es sich um ein wiederkehrendes Ereignis, womöglich aber auch um eine plötzliche Epiphanie. Mircea Eliade hat in seiner Unterscheidung von heiliger und profaner Zeit vor allem ersteres im Blick: Die heilige Zeit ist die des Urbeginns, der im Ritual immer wieder (nach-)vollzogen wird und, seinem Wesen nach unverändert, wiederkehrt; sie ist die Ewigkeit im Unterschied zum flüchtigen Verfließen der profanen, alltäglichen Zeit, von der wir ständig sagen, daß wir sie nicht haben.

Demgegenüber betont Ludwig Klages gerade die sich immerzu wandelnde Zeitlichkeit der lebendigen Wirklichkeit, der die leblose Unveränderlichkeit abstrakter Entitäten und künstlicher mechanischer Dinge entgegenstünde. Kein Augenblick kehre wieder, kein Wesen der Natur gleiche dem anderen, nur der menschliche Geist fingiere abstrakte Identitäten, um sich die Natur zu unterwerfen und die Welt „auf den Begriff zu bringen“.

Der Widerspruch zwischen beiden Denkern löst sich allerdings auf, insofern es ihnen um ein ähnliches Erlebnis der Epiphanie geht, um den Einbruch von etwas Göttlichem, dessen Ewigkeit und Außerzeitlichkeit nicht in statischer Beharrung in sich selbst, sondern in seiner qualitativen Differenz zur gewöhnlichen, meist quantitativ unterteilten Realität besteht. Als Urbild bleibt es immer dasselbe, aber seine – allein erfahrbare – Erscheinungsseite ist immer eine andere.

 

Das Göttliche kann in uns oder außer uns, im Mikro- oder Makrokosmos, erlebt werden, weil den gesamten Kosmos dieselben polar beschreibbaren Qualitäten durchwalten: Solche Urpolaritäten sind etwa diejenigen von Verdichtung und Verflüchtigung, Zusammenziehung und Ausdehnung, Teilchen und Welle, Raum und Zeit, Materie und Dynamik, weiblich bergendem und männlich schweifendem Wesen und so fort.

Wahrscheinlich liegt im Rätsel der Zeit das eigentliche Urphänomen des Göttlichen beschlossen – die Zeit ist das hervorbringende, schöpferische Agens der Welt, aber sie bedarf ihres räumlichen Gegenspielers, um sich zu manifestieren.[9] Vielleicht können wir den oben angedeuteten Gegensatz zwischen einem Gott und der Vielheit der Götter dahingehend auflösen, daß wir das allen Göttern gemeinsame Göttliche als zeitlichen Aspekt und die Götter als dessen Verräumlichungen, als Archetypen des Raumes, fassen. Die Götter konstituieren alle gemeinsam den Kosmos, und dieser wird belebt durch das Göttliche.

 


Immanenz und Kosmozentrismus


Der Begriff des Kosmischen verweist uns auf die letzte Differenz zwischen Heidentum und (christlich-jüdisch-islamischer) Offenbarungsreligion, die wir hier hervorheben wollen: auf diejenige von Kosmozentrismus und Theozentrismus, die in neuerer Zeit besonders Jan Assmann untersucht hat. Die Götter sind Teile oder Aspekte des Kosmos; die Sonderform des Gottes der abrahamitischen Religionen steht hingegen außerhalb der Welt – er ist das „ganz Andere“ und „Absolute“, über das wenig mehr gesagt werden kann, als was es alles nicht ist. Gott ist ein „lauteres Nichts“ in der Sprache der Mystik, und aufgrund seiner Bestimmungslosigkeit fallen in ihm, in Hegelscher Dialektik, Sein und Nichts zusammen. Aus dieser Orientierung an einer bild- und gestaltlosen Transzendenz ergibt sich das mosaische Bilderverbot, das sich gegen die Heiligkeit und Faszination des Kosmos richtet.

 

Viel gibt es hingegen von den Göttern der kosmozentrischen Erfahrungsreligionen zu erzählen. Die Mythen der Völker sind voller Berichte vom Wesen und Handeln der Götter, und ihre berückende oder verstörende Schönheit inspiriert die Künstler seit Urzeiten. Die erste und ursprüngliche Tätigkeit der Götter war stets die Ordnung des Kosmos (nicht aber dessen Schöpfung aus dem Nichts), der durch sie erst vom Chaos in ein gegliedertes Ganzes verwandelt wurde.

 

Hesiod hat die ersten Göttergenerationen in seiner Theogonie explizit mit kosmischen Bereichen, etwa Gaia (Erde), Himmel (Aether) und Meer (Pontos), gleichgesetzt; in der nordischen Mythologie bestehen die Teile der Welt aus den Körperteilen des getöteten Urriesen Ymir als „Makanthropos“ und erhalten von den Göttern ihren jeweiligen Ort zugemessen. Auch diese selbst haben in der Mythologie der Edda ihren je eigenen Sitz, ihr „Heim“, am Himmel, und das gesamte Universum wird von der Weltesche Yggdrasil als kosmischer, am Polarstern gipfelnder Achse gegliedert.[10] In der slawischen Mythologie erscheint insbesondere Swantewit als kosmischer Gott, dessen vier Köpfe in die vier Himmelsrichtungen schauen oder den vier Jahreszeiten entsprechen. Der nordischen Weltesche entspricht im Mythos der alten Slawen eine gewaltige Eiche als Weltbaum, die den Kosmos durchragt.

Während den Griechen aber die Welt als dauerhaft erschien, glaubten die nordischen Völker, daß die Ordnung des gegenwärtigen Weltalters durch „akosmische“, zerstörerische Kräfte bedroht sei, die letztlich obsiegten, so daß nach einer kosmischen Katastrophe, bei der das alte Göttergeschlecht zugrundeginge, ein neuer Äon heraufziehe, in dem sich die Welt fundamental erneuere und auch die Götter (oder zumindest einige von ihnen) wiedergeboren würden. Besonders auch die indische Mythologie betont die Abfolge verschiedener, genau berechneter Zeitalter und weiß ebenfalls von gewaltigen Auseinandersetzungen von Göttern und Göttergeschlechtern zu berichten. Ebenso ist die slawische und die altiranische Mythologie von einem Gegensatz „heller“ und „dunkler“ Mächte geprägt, die jedoch nicht im christlichen Sinne „gut“ und „böse“ sind, sondern in ihrem Zusammenspiel die Entwicklung des Kosmos verbürgen oder versinnbildlichen.

 


Naturreligion


Die Verbundenheit der Götter mit dem Kosmos und dessen „Sphären“ sowie mit den irdischen Landschaften als deren Entsprechungen verdeutlicht, inwiefern das Heidentum auch immer eine Naturreligion war und ist. Dieser Begriff ist allerdings nicht auf seine pantheistische oder monistische, von der Aufklärung geprägte Bedeutung zu reduzieren; im Sinne einer modernen Intellektuellenreligion bezeichnete er oft nur das Bestreben, den Glauben an die Naturwissenschaften mit einem religiösen Gefühl zu verbinden. Demgegenüber ist festzustellen, daß die heidnische Auffassung der Welt mit der naturwissenschaftlichen zwar vereinbar, aber doch von dieser verschieden ist. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Perspektiven: eine „ganzheitlich“-qualitative und eine partikular-zergliedernde. Die Haltung des (natur-)religiösen Menschen der Welt gegenüber ist mit der – freilich etwas reduzierteren – ästhetischen Einstellung des Betrachters eines Kunstwerks, z.B. eines Gemäldes, vergleichbar – der Naturwissenschaftler hingegen wird, wenn er etwa ein Chemiker ist, das Gemälde im Hinblick auf die Zusammensetzung seiner Farben analysieren. Keine der beiden Zugangsweisen ist per se falsch; das Beispiel hinkt allerdings etwas, da wir die chemische Analyse eines Gemäldes selbstverständlich nicht als Erfassung seines künstlerischen Gehaltes ansehen, während hier lediglich die unterschiedlichen Bezugnahmen verdeutlicht werden sollen. Natürlich kann – und sollte – ein Betrachter danach streben, möglichst viele verschiedene Perspektiven einzunehmen, woraus größere Objektivität erwächst; er wird jedoch niemals alle Perspektiven oder einen absoluten Standpunkt einnehmen können, aus der sich sein Erkenntnisgegenstand zur Gänze offenbart. Uns sind immer nur unsere jeweiligen Perspektiven gegeben, die weiter oder enger sein können, woraus jedoch kein Relativismus, Subjektivismus oder Nihilismus folgen, denn es handelt sich immer um unsere Bezugnahmen auf einen Ausschnitt der Welt selbst in ihrer von den einzelnen Göttern archetypisch durchwalteten und gegliederten Mannigfaltigkeit.

Der Vorwurf, Naturreligion habe sich im Zeitalter der Naturwissenschaften überlebt, da wir die Welt heute besser verstehen und exakter beschreiben als früher, geht insofern daneben, als der naturreligiöse Mensch nicht z.B. die Erde oder die Sonne als solche, sondern ihre Qualitäten verehrt: das Hervorbringende, Tragende und in sich Zurücknehmende bzw. das Licht und Leben Spendende, das „unsere“ Himmelskörper im Sonnensystem für uns repräsentieren, in anderen Teilen des Universums aber auch durch andere Planeten und Gestirne ausgefüllt werden könnte. Es ist daher auch völlig verfehlt, etwa zu behaupten, Menschen früherer Zeiten hätten sich die Sonne als von Pferden auf einem Wagen gezogen vorgestellt, weil sie es nicht besser wußten. – Wir glauben heute ebensowenig, daß der elektrische „Strom“ aus Wasser besteht, weil wir mit diesem Begriff auch große Flüsse bezeichnen! In beiden Fällen wird eine qualitative Erscheinung – die Bewegung der Sonne oder das Strömen des „Stromes“ – durch eine entsprechende Metaphorik angedeutet: Pferde repräsentierten dem Menschen der Bronzezeit Bewegung und Geschwindigkeit so wie uns noch immer das Wasser als Inbegriff des Strömenden gilt.

 

Der Begriff „Naturreligion“ impliziert, die Welt als eine am besten in bildhaft-mythischer Rede zu beschreibende, schöne und sinnerfüllte Ganzheit zu betrachten, zu der auch der Tod – als „Kunstgriff“ der Natur, „viel Leben zu haben“ (Goethe) – gehört. „Ganzheit“ heißt, daß die Welt nicht auf ein Jenseits bezogen ist, nicht von einer Transzendenz unendlich überstiegen wird, sondern daß das Göttliche in seinen Ausfaltungen in ihr enthalten ist und daß letztlich nichts in ihr verlorengeht. Alles transformiert sich fortwährend, ist Wandel und Übergang, und jeder Zustand wiederholt einen früheren, ohne ihn doch identisch abzubilden; vielmehr stellt jeder Zyklus eine fortwährende Erneuerung und Verjüngung dar. Nicht der Kreis als Symbol der Wiederkehr des Immergleichen noch gar die Linie als Wegstrecke vom Sündenfall zum zukünftigen Reich Gottes, sondern die Spirale als Figur einer Wiederkehr auf „höherer Stufe“ veranschaulicht die Zeitauffassung heidnischer Naturreligion.[11]

Alles Existierende wird also im dreifachen Sinne „aufgehoben“, d.h. beendet, bewahrt und erhöht. Der Heide „findet genügend Trost in der Vorstellung, daß er in das ewige ‚Stirb und Werde’ der göttlichen Natur eingebettet ist,“[12] schreibt Kurt Oertel in einem Aufsatz über die Jenseitsvorstellungen verschiedener Religionen, in dem er den Wiedergeburtsglauben, dem viele heutige Heiden anhängen, als konstitutiv für das Heidentum zurückweist. Seiner Auffassung nach besteht darin nur ein Konzept moderner Esoterik, die indische Glaubenslehren, durch die Theosophie vermittelt, übernommen und trivialisiert habe. Dem Inder erscheine die Wiedergeburt hingegen als ein leidvolles Verhaftetsein an die Welt, nach dessen Überwindung man streben solle. Zudem lasse sich ein Wiedergeburtsgedanke anhand der Zeugnisse des europäischen Heidentums nicht hinreichend belegen; die einzige Art von „Wiedergeburt“, die diese etwa in den isländischen Sagas belegten, sei die Wiederverkörperung des Ahnen in seinen Nachfahren, was sogar zu dessen Lebzeiten geschehen könne. Offenbar handelt es sich dabei also um eine Erneuerung charakteristischer Eigenschaften, deren Gesamtheit Römer und Griechen als genius bzw. daimon eines Geschlechtes bezeichneten.

Dem stehen jedoch die Äußerungen antiker Autoren über einen Wiedergeburtsglauben bei den Kelten entgegen, und auch die eddischen Überlieferungen, die von (schamanischen?) Reisen der Götter in das Totenreich und einer Wiederkehr aus diesem oder von der Rückkehr des getöteten Balder aus der Unterwelt zu Beginn einer neuen Erd-Epoche sprechen, lassen sich im Sinne einer Wiedergeburt deuten. Es bleibt aber fraglich, wie diese verstanden wurde, und Oertel ist zuzustimmen, daß die Idee der Neueinkörperung einer individuellen Seele in einen neuen Körper nicht zu einer Kultur paßt, die noch von ganz anderen, mehrschichtigen Seelenbegriffen, von unterschiedlichen Seelenteilen oder Seelenaspekten, ausging.

 

„Wiedergeburt“ kann jedoch auch ganz anders verstanden werden: nämlich als Fortsetzung dessen, was im letzten Leben beendet wurde. Diese Auffassung entspricht sowohl der des (ursprünglichen) Buddhismus als auch, im Westen, derjenigen etwa von Guido von List. Das erfahrungs- und naturreligiöse Grundprinzip, „daß nichts verloren geht“, bedeutet, daß sich zwar das einzelne in seine Bestandteile auflöst, diese aber in neue Zusammenhänge eingehen. Alles verbleibt innerhalb eines Kontinuums. Für die geistig-seelische Welt gilt das gleiche: Kein Gedanke kann völlig verschwinden, da er wieder andere Gedanken hervorbringt und das Geistige wie das Körperliche in seinen Wirkungen fortlebt. Das so oft mißverstandene Prinzip des Karma (Tat) bezeichnet genau dies (und nicht etwa eine geheimnisvolle, verborgene Macht). Jede Tat bewirkt neue Taten, jeder Gedanke steht in Kontinuität zu weiteren Gedanken, und da Geistiges und Körperliches zwar verbunden, nicht aber aufeinander reduzierbar sind, wirkt letztlich auch alles Geistige, trotz des Todes seines körperlichen „Trägers“, unendlich fort. Die Vorstellung, daß jedes Leben nach dem Tod seine ihm gemäße Fortsetzung findet, so daß der eine etwa in Walhall einkehrt, der andere zur Hel hinabfährt, bringt dieses Prinzip bildhaft zum Ausdruck.

 

Das Urphänomen von „Stirb und Werde“ wurde und wird immer wieder neu interpretiert, und da Heiden, wie oben angedeutet, nicht darauf angewiesen sind, ein „heiliges Buch“ als wörtlich gültige Wahrheit anzuerkennen, müssen sie sich nicht auf eine einzige Interpretation festlegen. Die Spirale dreht sich weiter, kreist in sich und erneuert sich, und auch dies ist nur eine Interpretation.

 




[1] Fritz Steinbock: Das heilige Fest. Rituale des traditionellen germanischen Heidentums in heutiger Zeit, Hamburg 2004.

[2] Zur altjüdischen Gottesvorstellung siehe Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch, Wiesbaden 2005 (Erstausgabe Berlin 1925).

[3] Zum Niederlagendiskurs im allgemeinen vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Frankfurt/M. (2. Aufl.) 2007. Zu deutschen Strategien der Niederlagenverarbeitung vgl. Baal Müller: Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage, Schnellroda 2009.

[4] Carsten Colpe: Die Ausbildung des Heidenbegriffs. In: Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hrsg. von Richard Faber und Renate Schlesier, Würzburg 1986, S. 61-87, hier S. 79f.

[5] Wie auch beim Buddhismus (vor allem in seinen ursprünglichen Theravada-Formen), sofern man diese auf Erkenntnis der existenziellen Befindlichkeit des Menschen abzielende Weisheitslehre überhaupt als Religion bezeichnen kann.

[6] Reinhard Falter: Natur neu denken. Erfahrung – Bedeutung – Sinn, Klein Jasedow 2003, S. 45.

[7] Fritz Steinbock: Das heilige Fest, S. 23. Der österreichische Journalist Fritz Steinbock war, als er dieses Buch publizierte, der für das Ritualwesen zuständige „Ewart“ des „Vereins für Germanisches Heidentum“ (VfGH).

[8] Ludwig Klages, einer der Hauptvertreter der Lebensphilosophie, suchte in seinem Hauptwerk ‚Der Geist als Widersacher der Seele’ (1929-1933) eine „Metaphysik des Heidentums“ zu entwerfen, d.h. die ontologischen Strukturen heidnischen Denkens freizulegen. Zu Klages siehe Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik, München 2003, und Baal Müller: Kosmik. Prozeßontologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler: Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, Schwielowsee 2007.

[9] Zeit und Raum bilden ein polares Gefüge, in dem sich der Kosmos aufspannt. Die Zeit wird nicht durch ein verräumlichendes Denken verfremdet, wie Henri Bergson annahm, sondern die Reduktion des Zeitphänomens ergibt sich aus der Ersetzung der (immer unterschiedlichen) qualitativen Mannigfaltigkeit des Erscheinenden durch das quantitative Einerlei des Meßbaren. Von solcher Verfremdung ist der Raum ebenso betroffen wie die Zeit.

[10] Eingehend zur Kosmologie der Edda: Otto Sigfrid Reuter: Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube, 2 Bände, Sontra 1922 und Bad Berka 1923.

[11] „Wenn dies nun aber immer so fort ginge ohne Wandel und Wechsel, so würde es weder Fortschritt noch Entwicklung geben, es wäre ein ewiger – unsagbar öder! – Kreislauf, was es aber nicht ist, wohl aber ein aufwärtsführender Spirallauf, gleich einer ‚Wendeltreppe’, der von den tieferen Ebenen (Zyklen) zu den höheren geleitet.“ Guido von List: Neuzeitliche Einherier. In: Johannes Balzli: Guido von List. Der Wiederentdecker Uralter Arischer Weisheit. Sein Leben und sein Schaffen, Leipzig 1917, S. 116-124, S. 121. Bereits Goethe hat die Spirale als Symbol des Lebensgesetzes angesehen.

[12] Kurt Oertel: Von den Beschwernissen der letzten Reise. In: Heidnisches Jahrbuch (3/2008), hrsg. von Daniel Junker und Holger Kliemannel, Hamburg 2008, S. 179-220, S. 217f. Oertel ist im „Eldaring“ als „Bewahrer“ für religiöse Grundsatzfragen zuständig.

Alfons Mucha: Gelöbnis der Jugend unter der Slawischen Linde (Aus dem Zyklus "Das Slawische Epos, 1911-1928)
Alfons Mucha: Gelöbnis der Jugend unter der Slawischen Linde (Aus dem Zyklus "Das Slawische Epos, 1911-1928)