Die Slawen in Deutschland

Die Germania Slavica

Slawisches Idol von der Fischerinsel (Tollensesee in Mecklenburg-Vorpommern)
Slawisches Idol von der Fischerinsel (Tollensesee in Mecklenburg-Vorpommern)

Wenn von den Vorfahren der Deutschen die Rede ist, wird zumeist an die Germanen gedacht, die demographisch und kulturell – schon insofern das Deutsche eine germanische Sprache ist – den gewichtigsten Teil zur Ethnogenese des deutschen Volkes beigetragen haben. Daneben gab es im Süden und Westen keltische und romanische Bewohner des späteren Deutschland, die nach der Völkerwanderung von den germanischen Stämmen assimiliert worden sind. Wenig präsent in der Öffentlichkeit ist jedoch die – in der archäologischen Forschung so genannte – „Germania Slavica“: das weite Gebiet Mittel-, Ost- und Norddeutschlands, das jahrhundertelang von Slawen besiedelt war.

Diese geringe Beachtung ist umso erstaunlicher, als sich die – größtenteils kriegerische – Eingliederung der slawischen Stämme in das Deutsche Reich und ihre Missionierung erst verhältnismäßig spät vollzogen haben und gut dokumentiert sind. Aufgrund der Berichte Thietmars von Merseburg, Adams von Bremen, Helmolds von Bosau, Saxo Grammaticus’ und anderer mittelalterlicher Chronisten sowie zahlloser archäologischer Funde konnten die Lebensverhältnisse und Glaubensvorstellungen der heidnischen Slawen im Osten Deutschlands besser als in vielen bis heute slawischen Ländern erschlossen werden.

Unseligerweise war das Verhältnis zwischen Deutschen und Slawen über Jahrhunderte hinweg oft von Feindschaft geprägt – angefangen mit der Kriegs-, Missions- und Expansionspolitik der Ottonen über den großen Slawenaufstand von 893, den Wendenkreuzzug von 1147 und die nachfolgende slawische Assimilation bis hin zu den Weltkriegen und den Vertreibungen der Deutschen aus den Ostgebieten. Die Lasten der Vergangenheit zu überwinden, liegt nicht nur im politischen Interesse benachbarter Völker, die auf friedliche Koexistenz angewiesen sind, sondern auch im Interesse des einzelnen geschichtsbewußten Deutschen, da rund ein Fünftel des deutschen Volkes überwiegend slawischer Abstammung ist.

 

In der Antike war das heutige Nord- und Ostdeutschland von germanischen Stämmen besiedelt. Als diese in der Völkerwanderungszeit südwärts zogen, drangen von Osten her, aus einem Gebiet nördlich der Karpaten, im südlichen Polen und in der westlichen Ukraine, im 6. und 7. Jahrhundert slawische Stämme ein, die sich möglicherweise mit den verbliebenen Germanen vermischten. Wenig ist über die slawische Landnahme in diesem „Dunklen Zeitalter“ bekannt; sie ist, als die Slawen ins Licht der Geschichte treten, weitgehend abgeschlossen. Die Sprache dieser Urslawen zwischen Ostsee und Ägäis, Elbe und Dnjepr muß noch relativ einheitlich gewesen sein und wies eine starke Verwandtschaft mit dem Urbaltischen, aber auch mit indo-iranischen Sprachen auf. Eine erste größere Staatsbildung stellte das von einem fränkischen Kaufmann im 7. Jahrhundert gegründete Samo-Reich in Mähren, Niederösterreich und der Südwest-Slowakei dar, das sich im Aufstand der Donauslawen gegen die awarische Herrschaft herausgebildet hat; im 9. und 10. Jahrhundert entstanden das Großmährische und das Bulgarische Reich, Kroatien, der tschechische Staat der Přemysliden, das Polen der Piasten und das Reich der Kiewer Rus, die Wiege des späteren Rußland.

Eine politische und religiöse Ausnahme bildeten die im Mittelalter von den Deutschen als Wenden bezeichneten Slawen zwischen Elbe und Oder; sie hielten am zähesten an ihren traditionellen vorstaatlichen Stammesstrukturen sowie am Heidentum ihrer Ahnen fest und zogen daher den besonderen Haß ihrer christlichen Nachbarn – insbesondere auch deren Begehrlichkeit hinsichtlich ihrer fruchtbaren Siedlungsräume – auf sich. Es war ihr Schicksal, in jahrhundertelangen wechselvollen Kämpfen zwischen den mächtigen Staaten der Deutschen, Polen und Dänen zerrieben zu werden; lediglich die Sorben konnten Sprache und Volkstum in einem kleinen Teil ihres einstigen Siedlungsgebiets bis in die Gegenwart bewahren.

 

Wechselnde Bündnisse und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Slawen, Franken und Sachsen sowie zwischen den slawischen Stämmen untereinander waren im Mittelalter an der Tagesordnung; lange Zeit lag ihnen kein ethnischer oder religiöser Gegensatz zugrunde. So kämpften etwa heidnische Obodriten an der Seite christlicher Franken gegen die Sachsen und trugen zu deren Unterwerfung unter Karl dem Großen teil. Die Bedingungen änderten sich, als die deutschen Kaiser unter kirchlichem Einfluß bei ihrer Kriegführung gegen die Slawen zunehmend auch deren Christianisierung erstrebten. Um diese voranzutreiben, stiftete Otto I. im Jahr 948 die Bistümer Havelberg und Brandenburg, die zwanzig Jahre später mit den Bistümern Zeitz, Merseburg und Meissen dem neu geschaffenen Erzbistum Magdeburg unterstellt wurden. Auch im Obodritenland (Ostholstein und Mecklenburg) hatte der Schleswiger Bischof Marco bereits mit der Slawenmission begonnen, die vom Bistum Oldenburg aus betrieben wurde.

In der Schlacht an der Raxa gelang es Otto I. am 16. Oktober 955, eine Koalition aus Obodriten, Tollensern (die am Tollensesee siedelten), Zirzipanen (um den Teterower See) und Redariern (im südlichen Mecklenburg) zu besiegen, nachdem diese zuvor, mit unbotmäßigen sächsischen Fürsten verbündet, in sächsisches Gebiet eingefallen waren. Ihre Unterwerfung brachte einige Jahrzehnte Ruhe, doch nutzten sie die Streitigkeiten um die Nachfolge Ottos II. und des Erzbischofs von Magdeburg, um sich im Rahmen des Lutizenbundes neu zu organisieren. 983 wagten sie einen großangelegten Aufstand, der sich insbesondere gegen die Bischofssitze Havelberg und Brandenburg richtete. Aufgrund ihres militärischen Erfolgs und des auch in den Folgejahren nicht zu brechenden Widerstands gegen deutsche und polnische Heere sah sich Kaiser Heinrich II. zu einem Wechsel seiner Politik genötigt und verbündete sich 1003, sehr zum Verdruß der Kirche, mit den Lutizen gegen den christlichen Polenherrscher Boleslaw I.

Die von Priestern der vielleicht am Tollensesee gelegenen, bis heute jedoch nicht eindeutig lokalisierten Tempelburg Rethra (bei Thietmar von Merseburg „Riedegost“) organisierte Erhebung hatte ein Ende der Christianisierung und die Sicherung der Unabhängigkeit der Slawen für die nächsten Jahrzehnte zur Folge – nicht aber ihre politische Einigung.

 

Die andauernden Kämpfe der slawischen Stämme um die Vorherrschaft bzw. um die besondere Stellung Rethras führten zu einer anhaltenden Schwächung, die es Burchard II. von Halberstadt im Jahre 1168 ermöglichte, die Tempelburg einzunehmen. Um den Slawen die angebliche Überlegenheit des christlichen Gottes zu demonstrieren, führte er das heilige Pferd des Gottes Swarožić fort und zerstörte wahrscheinlich auch das Heiligtum insgesamt. Eventuell wurde Rethra noch einmal wiederaufgebaut, denn für das Jahr 1125 ist die neuerliche Zerstörung einer Stadt und eines Tempels während eines Feldzugs Lothars von Supplinburg gegen die Lutizen überliefert. Die kultische Bedeutung Rethras für die Wendenstämme war zu dieser Zeit jedoch bereits auf die Tempelanlage von Arkona auf Rügen übergegangen.

Der Wendenkreuzzug

Zerstörung eines heidnischen Heiligtums während des Wendenkreuzzugs. Gemälde von Wojciech Gerson (1831-1901)
Zerstörung eines heidnischen Heiligtums während des Wendenkreuzzugs. Gemälde von Wojciech Gerson (1831-1901)

Das geistige Klima der Kreuzzüge bewirkte eine Verstärkung des politisch-ökonomischen Expansionsdrucks von deutscher Seite durch missionarischen Eifer. Fortwährende Streitigkeiten unter den Slawen trugen das Ihre zu der allmählichen Verschärfung bei. Im Jahre 1095 hatte Papst Urban II. zur Rückeroberung des 637 von den Arabern eingenommenen Palästinas aufgerufen. Der erfolgreiche Erste Kreuzzug, der 1099 mit der Eroberung Jerusalems endete, war sicher ein Vorbild für den Wendenkreuzzug, der erstmals 1107/08 im Umkreis des Erzbischofs Adalgot von Magdeburg gefordert wurde (Epistola pro auxilio adversus paganos [slavos], dt.: „Aufruf zum Kreuzzug gegen die heidnischen Slawen“). Neben dem geistlichen Aspekt, der (Re-)Christianisierung eines angeblich bereits für die Christenheit gewonnenen Gebietes, stand die Aussicht auf materiellen Gewinn im Vordergrund: „Wenn die Kreuzfahrer es wünschten, könnten sie das beste Land zum Siedeln erwerben. Zwar seien die Heiden schlimm, ihr Land jedoch sei reich gesegnet mit Fleisch, Honig und Mehl.“

 

Zu politischer Wirksamkeit gelangte diese Idee erst bei den Vorbereitungen zum Zweiten Kreuzzug auf den Reichstagen zu Speyer und Frankfurt 1146 und 1147. Während der Stauferkönig Konrad III. seine Teilnahme an diesem bereits zugesagt hatte, lehnten die sächsischen Fürsten eine Unterstützung mit dem Argument ab, daß es in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft schließlich noch heidnische Völker gäbe, die ihre Grenzen bedrohten und daher vordringlich zu bekämpfen seien. Das Vorhaben wurde wesentlich von Bernhard von Clairvaux unterstützt, der 1147 seinen Aufruf zum Wendenkreuzzug verfaßte. Kurz darauf folgte die päpstliche Bulle Divini dispensatione Papst Eugens III., der diesen Kreuzzug mit dem Orientkreuzzug und der spanischen Reconquista verglich.

Eugen III. verlangte die Bekehrung der Wenden, versprach den Kreuzfahrern einen Nachlaß der Sündenstrafen und drohte Teilnehmern die Exkommunikation an, die ihr Kreuzzugsgelübde wegen weltlicher Gewinnaussichten brechen. Bernhard von Clairvaux ging noch einen Schritt weiter und forderte gar natio deleatur – die Vernichtung der wendischen Nation, was oft zu der Parole „Tod oder Taufe“ zugespitzt wurde. Die Hauptakteure auf Seiten der weltlichen deutschen Fürsten waren die sächsischen Herrscher Heinrich der Löwe und Albrecht der Bär, die die slawischen Gebiete nördlich bzw. südlich der Elbe beanspruchten und die Kreuzfahrerheere anführten. Der Widerstand auf slawischer Seite wurde insbesondere von dem Obodritenfürsten Niklot angeführt, der seine Verteidigungsmaßnahmen mit großer Eile vorantrieb, Festungen ausbauen ließ und sich um Unterstützung des Grafen Adolf von Holstein bemühte, mit dem er einen Freundschaftsvertrag geschlossen hatte. Da Adolf ihm seine Hilfe aus Loyalität gegenüber den deutschen Fürsten verweigerte, ließ Niklot seine Kriegsflotte im Juni 1147 Lübeck angreifen – nicht ohne den in seinen Augen treulosen Grafen jedoch zuvor gewarnt zu haben. Er verwüstete die Stadt, konnte die Burg aber ebenso wenig wie die ebenfalls belagerte Süseler Feste einnehmen. Militärisch waren die Wenden den Kreuzritterheeren deutlich unterlegen, weshalb sie offene Feldschlachten vermieden und im Wesentlichen aus ihren Festungen heraus operierten. Heinrich der Löwe verheerte die Gebiete der Lutizen und Pomeranen (im heutigen Pommern) und eroberte, neben anderen Städten, Stettin, dessen Einwohner sich darauf beriefen, früher schon durch Otto von Bamberg missioniert worden zu sein, und ihr Glaubensbekenntnis erneuerten. Die Statue des in Stettin besonders verehrten Gottes Triglaw konnte allerdings in Sicherheit gebracht und verborgen werden. Über den Kriegszug Heinrichs des Löwen ist bekannt, daß er die Burg Dobin gemeinsam mit dänischen Truppen belagerte, aber nicht einnehmen konnte.

 

Politisch war der Kreuzzug für die deutsche Seite und ihre polnischen Verbündeten unter Boleslaw III. erfolgreich: Die wendischen Gebiete wurden dauerhaft unterworfen, und mit der Ansiedlung deutscher Bauern begann eine weit nach Osten ausgreifende Kolonisationsbewegung. Geistliche wie Helmold von Bosau beklagten jedoch, trotz der Wiederherstellung oder Neugründung von Bistümern, Kirchen und Klöstern, einen mangelnden Ernst der sächsischen Fürsten bei der Slawenmission und warfen ihnen vor, die Slawen nicht vollständig unterworfen bzw. aus Gewinnsucht mit ihnen verhandelt zu haben. Tatsächlich lag eine völlige Verwüstung der wendischen Gebiete nicht im Interesse der Fürsten an einem Gewinn von Land und Untertanen, und die christlichen Missionare hatten mit ihrer Behauptung nicht unrecht, daß sich die Slawen oft nur pro forma zum Christentum bekannten, insgeheim aber an ihren heidnischen Bräuchen festhielten. Die fortwährenden Gegensätze zwischen den Volksgruppen führten dazu, daß die Slawen allmählich zu einer benachteiligten und entrechteten Minderheit im einstmals eigenen Land wurden, woran die Taufe wenig änderte, solange sie noch durch die Sprache als Slawe erkennbar waren. Lediglich die wendische Adelsschicht, die schon seit längerem mit dem Christentum in Berührung gekommen war und sich schnell an die veränderten Machtverhältnisse angepaßt hatte, konnte ihre gesellschaftlichen Positionen behaupten. Wie auch im Skandinavien der Wikingerzeit erfolgte also eine Missionierung und Assimilation von oben nach unten. Da die slawische Identität vor allem auf Religion und Sprache beruhte, war das wendische Volkstum durch die Übernahme des Christentums und den allmählichen Sprachwandel zum Untergang verurteilt.

Kampf um Arkona

Bischof Absalon stürzt die Statue des Gottes Swantewit in Arkona um. Gemälde von Laurits Tuxen (1853-1927)
Bischof Absalon stürzt die Statue des Gottes Swantewit in Arkona um. Gemälde von Laurits Tuxen (1853-1927)

Als letzter slawischer Stamm konnten die Ranen auf Rügen ihre Freiheit noch eine Generation lang behaupten. Ähnlich wie bei den Lutizen wurde ihre Gesellschaft von einer Priesteraristokratie dominiert, die zeitweilig eine größere Machtstellung als die Könige besaß. Ihr Zentrum war die Burg Arkona mit dem Tempel des Swantowit; eine weitere wichtige Festung war Charenza (früher mit der Stadt Garz gleichgesetzt, wahrscheinlicher jedoch die Burganlage bei Venz). Auch die Ranen waren ein sehr kriegerischer Volksstamm, der häufig die dänischen Inseln überfiel und mit den benachbarten Obodriten ständige Kleinkriege führte. 1123/24 wurden sie von deren Fürst Heinrich zu hohen Tributzahlungen genötigt. 1136 eroberten die Dänen unter König Erik II. Emune die Burg Arkona zum ersten Mal; in den folgenden Jahrzehnten mußten sich die Ranen abwechselnd dänischen und sächsischen Herrschern beugen, konnten die geforderte Annahme des Christentums jedoch noch für einige Jahrzehnte verweigern. 1168 schließlich eroberten Waldemar I. von Dänemark und sein Feldherr Absalon von Roskilde die Burg- und Tempelanlagen von Arkona und Charenza. Die gewaltige Statue des Swantewit sowie die Standbilder der Götter Rugievit, Porevit und Porenut wurden zerstört, die Fürsten Tezlaw und Jaromar I. mußten den Tempelschatz herausgeben und die dänische Lehenshoheit anerkennen. Außerdem wurden sie zur Übergabe der im Besitz des Tempels befindlichen Ländereien an die Kirche, zur Heeresfolge, zur Stellung von Geiseln sowie zur endgültigen Annahme des Christentums verpflichtet. 1169 unterstellte der Papst die Insel dem Bistum Roskilde.

Durch ihre Unterwerfung konnten die Rügenfürsten ihre Macht über die Insel jedoch erhalten und Rügens Vormachtstellung im Ostseeraum zeitweise sogar noch ausbauen: Als Lehnsmann unterstützte Jaromar I. die Dänen bei ihren Kriegszügen gegen den Pommernherzog Bogislav I. und erweiterte seinen Herrschaftsbereich auf dessen Kosten. Sein Sohn Wizlaw I. gründete 1234 die Stadt Stralsund, förderte die Gründung von Klöstern und die Ansiedlung deutscher Bauern; Jaromar II. führte Krieg gegen Lübeck und griff 1259 sogar in den Streit des dänischen Königs Christoph I. mit den Erzbischöfen von Lund ein, indem er Kopenhagen eroberte und weite Teile Seelands verwüstete; jedoch fiel er bereits im folgenden Jahr einem Anschlag zum Opfer. Auch unter seinem Sohn Wizlaw II. konnte Rügen seine Machtstellung unter dänischer Oberhoheit behaupten. Wizlaw III. schließlich, der eine höfisch-ritterliche Erziehung erhalten hatte, wurde als deutscher Minnesänger bekannt; offenbar war in seiner Generation die vollständige Anpassung an die deutsche Kultur vollzogen. Mit seinem Tod 1325 erlosch das Fürstenhaus in seiner Hauptlinie, was zum Rügischen Erbfolgekrieg führte. 1355 fiel Rügen an das Herzogtum Pommern-Wolgast. 1404 soll die letzte ranisch sprechende Frau auf Jasmund verstorben sein, womit nach der Religion auch die Sprache der slawischen Einwohner Rügens untergegangen war. Rügen war nun eine deutsche Insel.

 

Der Fall von Arkona markiert das Ende des eigenständigen organisierten Heidentums auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Lediglich die baltischen Prußen, deren Namen die Preußen erbten, wurden noch später, erst im 13. Jahrhundert, vom Deutschen Orden unterworfen und missioniert – in entlegenen Gebieten des Baltikums hielten sich heidnische Vorstellungen und Gebräuche noch bis in die Neuzeit.


Es liegt eine gewisse Tragik des Wendentums in seiner Unfähigkeit, die Gegensätze zwischen den Stämmen zu überwinden und überregionale staatliche Strukturen auszubilden – man kann die „deutschen Slawen“ in dieser Hinsicht mit den Kelten oder den indianischen Ureinwohnern vergleichen. Offensichtlich haben die slawischen Stämme zu spät erkannt, daß der neue politisch-religiöse Gegensatz zu den großen christlichen Nachbarstaaten von anderer Art war als die traditionellen Stammesfehden. Da der christliche Gegner auf einen „kulturellen Genozid“ abzielte, hätte man ihm mit einer religiös und ethnisch orientierten Bündnispolitik entgegentreten müssen, anstatt sich in Bruderkriegen aufzureiben. Die mutmaßliche Orientierung der Priester von Rethra, die wohl eine Art Orden bildeten, an kirchlichen Machtstrukturen und ihre führende Rolle im Lutizenbund sprechen indes dafür, daß bei der heidnischen Elite ein Prozeß des Umdenkens stattgefunden hat; jedoch konnte er den Fortbestand des wendischen Heidentums in einer feindseligen Umgebung nicht mehr sichern.

Tragischerweise büßten gerade die „Idealisten“, die sich der deutschen Expansion am energischsten widersetzt hatten, ihre Kultur und Sprache vollständig ein, während es den „Pragmatikern“ gelang, ihre Machtstellung durch Unterwerfung und Übernahme des Christentums zu behaupten.

 

Schließlich zeigt die Betrachtung der Geschichte der slawischen Gebiete in Nordostdeutschland auch, daß die Reformation nicht zufällig in den Gebieten erfolgreich war, deren Bewohner mit Gewalt missioniert worden waren und das Christentum lange Zeit nur als ideologische Bemäntelung weltlicher Herrschaftsansprüche wahrnehmen konnten. Das Anliegen der Reformation bestand nach ihrem eigenen Selbstverständnis zwar darin, gegen die Verweltlichung und angebliche Paganisierung der Kirche zu den verschütteten Ursprüngen des Christentums zurückzufinden, aber langfristig förderte sie die Säkularisierung, ja die geistige Aushöhlung und Selbstzersetzung sowie den demographischen Verfall des Christentums. Auch wenn sich die Kirchenkritik der Reformationszeit nur im christlichen Gewand artikulieren konnte, wirkte in diesem Impuls gewiß das Trauma der nur wenige Jahrhunderte zurückliegenden Zwangschristianisierung nach.


Die heutige Entchristlichung gerade derjenigen Teile Deutschlands, in denen das wendische Heidentum am längsten vorherrschte, legt den Gedanken nahe, daß die als fremd empfundene und mit Gewalt eingeführte Religion die Tiefenschichten des wendisch-deutschen Volksbewußtseins nicht in dem Maße durchdrungen hat, wie es Jahrhunderte zuvor am Ausgang der Römerzeit der sanfteren iro-schottischen Mission in Süddeutschland gelungen war. Der staatlich verordnete Atheismus der DDR beschloß diesen Prozeß lediglich bzw. verhalf der evangelischen Kirche zu einer religiösen Scheinexistenz, die sich daraus speiste, daß sie der politischen Opposition, trotz ihrer Infiltration mit Spitzeln, einen gewissen Schutzraum und organisatorischen Rahmen zur Verfügung stellte. Mit der Wende fiel diese Funktion weg, und das Ergebnis sind heute Landschaften, in denen die evangelische Kirche als gesellschaftliche Kraft kaum noch in Erscheinung tritt, während die katholische sowieso nur die Angelegenheit einer Minderheit war. Beide sind geistig ausgelaugt, ideologisch weitgehend an den vorherrschenden Zeitgeist angepaßt und haben weder dem Atheismus und Nihilismus des modernen, großstädtischen Menschen noch dem Ausgreifen des Islam etwas entgegenzusetzen. Immer mehr Menschen besinnen sich daher auf das heidnische Erbe – meist in Gestalt des als „Asatrú“ bezeichneten, am Heidentum der skandinavischen Wikingerzeit orientierten Neopaganismus, da ihnen das eigentlich in Nordostdeutschland heimische wendische Heidentum unbekannt ist.

Es spricht einiges dafür, die geheimnisvolle naturverbundene Religion unserer Urahnen wiederzuentdecken!

Alfons Mucha: Die Slawen in ihrer Urheimat (aus dem Zyklus "Das Slawische Epos", 1911-1928)
Alfons Mucha: Die Slawen in ihrer Urheimat (aus dem Zyklus "Das Slawische Epos", 1911-1928)